Geisteswissenschaften
Imperien, Imagination, Orientalismus
Auch wenn es scheint, als seien Imperien längst Teil der Vergangenheit, sind sie als Vorstellungswelten doch quicklebendig. Ob Kulturerbe-Tourismus oder Maskentheater, imperiale Träumerei oder Neoimperialismus: Mit solchen Rollenspielen und Identitätswechseln lässt sich Geld verdienen. Das internationale Publikationsprojekt zu nach-imperialen Identitäts- und Geschichtsentwürfen, Post-Empire Imaginaries? Anglophone Literature, History, and the Demise of Empires (Hg. Prof. Barbara Buchenau, Anglistik, und Prof. Virginia Richter, mit Dr. des. Marijke Denger, beide Universität Bern) versammelt innovative Forschung zu Lebens- und Kulturerbeformen, die sich erst nach dem Ende imperialer Konstellationen in verschiedenen Medien ausprägen. Imperien beflügeln nicht nur eine besondere Art der kulturellen Vielfalt, sie halten die Menschen auch in ihrem Bann, weil sie zugleich Ablehnung und Bewunderung provozieren und als vergangene Orte der Sehnsucht die Menschen mit einem Archiv bzw. Repertoire versehen, das zugleich Nostalgie, Kritik und Träumerei erlaubt (Leiden/Boston: Brill/Rodopi 2015).
Wie ein längst untergegangenes Weltreich kollektive Vorstellungs- und Bedeutungsstrukturen in der Migrationsgesellschaft prägt, untersucht das Projekt Mitgebrachte Schülervorstellungen zum Begriff Nation und ihre Bedeutung für den Geschichtsunterricht. Eine qualitative Untersuchung zum Nationenverständnis von Schülerinnen und Schülern in mehrsprachigen Klassen. Tülay Altun (DaZ/DaF) führt offene Interviews und Gruppendiskussionen mit Schüler*innen der Sek. II unter der Fragestellung: Wie äußern Schüler*innen ihre Vorstellungen zum Nationenverständnis in Bezug auf das Osmanische Reich? Diese werden durch die Verschränkung der Dokumentarischen Methode mit dem sprachtheoretischen Ansatz der Funktionalen Pragmatik rekonstruiert und analysiert. Erstes Ergebnis: Besonders Schüler*innen, die sich als ‚türkisch‘ bezeichnen, verbinden subjektive Vorstellungen vom Osmanischen Reich mit nationaler Identität. In einer parallel vorgenommenen Schulbuchanalyse wurde mit Bezug auf das Thema Nation/Nationalismus zudem eine Europazentrierung festgestellt. Ziel der Untersuchung sind Vorschläge zu einer neuen Didaktik im Sinne migrationspädagogischer Ansätze.
Auch die Imagination von Zeitgenossen hat das Osmanische Reich beflügelt. In dem Publikationsprojekt Turning Turk: The Ottoman Empire and the English Imagination, 1700–1799 unternimmt Prof. Patricia Plummer (Anglistik) eine umfassende Untersuchung zum englischen Orientalismus des 18. Jahrhunderts. In Anlehnung an und Erweiterung von Saids Orientalism wird der englische Orientdiskurs untersucht, der mit dem Einsetzen einer vermehrten Reisetätigkeit ins Osmanische Reich verknüpft ist. Neben bedeutenden Reiseberichten, u.a. Lady Mary Wortley Montagus berühmte Turkish Embassy Letters, geschrieben während ihrer Reise nach Konstantinopel 1716–1718, und Portraits englischer Orientreisender in ethnischer Maskerade werden Gedichte, Dramen und orientalische Erzählungen analysiert. Die Studie beleuchtet so einen vielstimmigen Diskurs, der die englische Literatur und Kunst des 18. Jahrhunderts geprägt hat und in dem sich Ansätze eines interkulturellen und interreligiösen Dialogs nachweisen lassen (erscheint 2017).
Die Monographie Towards Turkish American Literature: Narratives of Multiculturalism in Post-Imperial Turkey von Dr. Elena Furlanetto (Anglistik) versucht, die Definition türkisch-amerikanischer Literatur über das Genre ‚Fiktion Türkei-stämmiger Amerikaner‘ hinaus auszudehnen. So soll Literatur eingeschlossen werden, die im Wortsinn zwischen zwei nationalen Sphären ‚pendelt‘. Der Band überschreitet etablierte Paradigmen des Life writing von Einwanderern: Das Projekt schließt Werke türkischer Autoren ein, die nicht ständig in den USA leben oder nicht dort geboren wurden (wie Elif Shafak und Halide Edip) und ebenso Romane, in denen türkische oder osmanische Themen und Stoffe gegenüber amerikanischen überwiegen (Güneli Güns On the Road to Baghdad; Alev Lytle Croutiers Seven Houses). Diese Texte wurden auf Englisch geschrieben und gezielt auf dem amerikanischen Markt platziert. Sie verarbeiten gleichermaßen türkische wie amerikanische Kultur- und Literaturtraditionen (i.V. für Interamericana, Peter Lang).
Ebenfalls im Forschungszusammenhang eines postkolonialen bzw. transnationalen Life writing verortet ist das Projekt Gender, Art and Theosophy in Sydney: Louisa Haynes Le Freimann (1863–1956) von Prof. Patricia Plummer, das Leben und Werk einer vergessenen anglo-australischen Künstlerin rekonstruiert. Nach intensiver Spurensuche in Großbritannien und Australien konnte nachgewiesen werden, dass Louisa Haynes Le Freimann im Kontext bedeutender Reformbewegungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts tätig war: dem Arts and Crafts Movement in Birmingham und der Theosophischen Gesellschaft, die in Australien wichtige Gegenimpulse zum entstehenden Nationaldiskurs lieferte und in Gesellschaft und Religion, Kunst und Architektur hineinwirkte. Die Rekonstruktion einer scheinbar marginalen weiblichen Biographie ermöglicht einen Blick auf wenig untersuchte alternative Strömungen der Moderne und trägt zu einem umfassenderen Verständnis der australischen Kultur um 1900 bei (Förderung: Visiting Research Fellowship, School of Literature, Art and Media, The University of Sydney; Joint Visiting Research Fellowship, Humanities Research Centre and Gender Institute, Australian National University).
Im französischsprachigen Raum üben seit einigen Jahrzehnten jene Autorinnen und Autoren einen wesentlichen Einfluss aus, deren Texte heute unter dem Begriff der postkolonialen Literatur(en) subsumiert werden: Im Zuge der Rezeption dieses postkolonialen Writing back öffnete sich das literarische Feld Frankreichs für die Frankophonie, deren wachsender Bedeutung und Kanonisierung auch die Académie française Rechnung trägt. Das Dissertationsprojekt von Ines Kremer M.A., Zwischen Assimilation und Auflehnung: Diskursive Transformationen und Kanonisierungsprozesse im frankophonen literarischen Feld Algeriens der 1940er und 50er Jahre (Betr.: Prof. Stephanie Bung, Romanistik), befasst sich mit der Entstehung und Ausdifferenzierung dieses Feldes und mit der Frage nach der Verquickung algerischer Autor*innen mit und ihrer Emanzipation von den Konsekrationsinstanzen des französischen Mutterlandes.
Kritik am Geschlechterverhältnis im Islam und die Zuschreibung einer Opferrolle für Frauen: Der westliche Blick auf muslimisch geprägte Kulturen und muslimische Bevölkerungsgruppen in Einwanderungsländern ist oft durch orientalistische Einstellungen beeinflusst. Englischsprachige muslimische Autor*innen entwerfen eigene Identitätskonzepte, mit denen sie einerseits gegen die Vereinnahmung durch eine westliche Blickordnung anschreiben und sich andererseits (auch) in einem eigenen Diskurs über Geschlechterverhältnisse in muslimischen Kulturen bzw. der muslimischen Diaspora verorten. In Prof. Plummers Forschungsprojekt Gendering Muslim Identities (Anschubfinanzierung: EKfG) wird die Darstellung von Muslimen in der englischsprachigen Literatur und Kultur aus einer genderspezifischen, kulturwissenschaftlich ausgerichteten transnationalen Perspektive untersucht. Es leistet einen Beitrag zur Dekonstruktion orientalistischer Wahrnehmungen, ermöglicht neue Blicke auf einen emergenten hybriden Diskurs und bislang marginalisierte Stimmen.
An das Projekt wird der Band Teaching Burqavaganza in Pakistan anschließen, den Patricia Plummer mit Prof. Shirin Zubair vorbereitet, die als Gastwissenschaftlerin aus Pakistan und Stipendiatin der Philipp-Schwartz-Initiative der Alexander von Humboldt-Stiftung derzeit für zwei Jahre in der Sektion für Postcolonial Studies tätig ist (2016–2018). Die Publikation geht gender- und kulturtheoretischen Fragestellungen nach und verknüpft diese mit einer intersektionalen und autobiographischen Perspektive. Prof. Zubair arbeitet außerdem an einem eigenen Forschungsprojekt zu Gender, Feminism and Education: A Study of Women’s Literacies and Lives in Contemporary Pakistan, das an ihre Forschungen als Senior Research Fellow am Duisburger Käte Hamburger Kolleg 2014 anschließt; eine gleichnamige Monographie erscheint nach Abschluss des Projekts bei Berghahn Books (New York).
Gegenüber dem gesellschaftlichen Alltagsdiskurs, in dem die Diskussion religiös-kultureller Themen häufig von Vorurteilen und vorschnellen Zuschreibungen begleitet ist, die die reflektierte, gewichtende und abwägende Behandlung erschweren, bietet die Behandlung solcher Themen im Theater nicht nur künstlerischen ‚Freiraum‘: Die Erarbeitung des Stücks durch das Ensemble ermöglicht eine intensive inhaltliche Auseinandersetzung mit religiös-kulturellen Themen. Wie solche Diskussionen kommunikativ und körperlich gestaltet werden, welche Diskurstraditionen, Zuschreibungen und Distanzierungsverfahren von den Teilnehmern mobilisiert werden und wie dabei ‚Interkulturalität‘ und ‚Identität‘ als Kategorie (anstelle einer Annahme) hergestellt werden, erforschen Maximilian Krug M.A. und Prof. Karola Pitsch (Kommunikationswissenschaft) im Projekt Religiös-kulturelle Diversität in Theaterproben. Sie analysieren dazu Videoaufzeichnungen der Proben zu einem Stück, in dem am Beispiel der Beschneidung die Frage gestellt wird: Wie viel Tradition aus der Heimat meiner Vorfahren möchte ich in mein Leben bringen, um meine Wurzeln nicht zu verleugnen?