Geisteswissenschaften

Mehrsprachigkeit

Regelmäßig findet an unserer Fakultät eine interdisziplinäre Ringvorlesung Mehrsprachigkeit der Institute Anglistik, DaZ/DaF, Germanistik, Kommunikationswissenschaft, Niederlandistik, Romanistik und Turkistik statt. Durch die ProfessorInnen Katja F. Cantone-Altıntaş, Daniel Reimann, Heike Roll und Evelyn Ziegler ist die Fakultät im Ruhrzentrum Mehrsprachigkeit vertreten, wo sich SprachwissenschaftlerInnen und SprachlehrforscherInnen der Universitäten Bochum und Duisburg-Essen unter verschiedenen Gesichtspunkten – soziolinguistischen, psycholinguistischen, systemlinguistischen – mit Mehrsprachigkeit befassen. Themen sind der Erwerb von Sprachen und Mehrsprachigkeit, der Erhalt bzw. die ­Attrition von Migrantensprachen, Sprachverwendung in institutionellen Kontexten, Mehrsprachigkeit in Alltagssituationen, die ­Entwicklung des Deutschen als Zweitsprache, die Situation romanischer und slawischer Sprachen in Deutschland, englisch-französischer Sprachkontakt in Kanada und Englisch in postkolonialen Kontexten und als Lingua Franca.

Während die zunehmende Mehrsprachigkeit von Regionen wie dem Ruhrgebiet vor allem der höheren Mobilität unserer Zeit geschuldet ist, können Grenzräume oder multiethnische Staatengebilde in der Regel auf eine historisch bedingte Multilingualität zurückschauen. Das Projekt von Prof. Evelyn Ziegler (Germanistik, mit Prof. Peter Gilles, Universität Luxemburg), ­Standardization in Diversity. The case of German in Luxembourg (1795–1920) behandelt den ­Standardisierungsprozess des Deutschen in ­Luxemburg im „langen 19. Jahrhundert“ anhand der Analyse von öffentlichen Bekanntmachungen der Stadt Luxemburg, die zweisprachig als deutsch-französische Texte vorliegen. Luxemburg ist durch eine weit zurückreichende Mehrsprachigkeit und eine wechselvolle politische Geschichte gekennzeichnet. Hier lässt sich nicht nur Sprachstandardisierung unter Mehrsprachigkeitsbedingungen besonders gut untersuchen, sondern auch der Zusammenhang von gesellschaftlicher und sprachlicher Entwicklung. Die Studie liefert auch einen Beitrag zur Entwicklung von urbanen Kommunikationsräumen im 19. Jahrhundert, insbesondere zur administrativen Top-down-Kommunikation (2013–2016, gefördert im lead-agency Verfahren durch FNR (Fonds National de la Recherche) Luxembourg und DFG).

Der Nachbar Frankreich ist seit mindestens 200 Jahren Einwanderungsland für Bürger unterschiedlichster Sprechergruppen, von italienischen und polnischen Arbeitsmigranten im 19. und frühen 20. Jahrhundert über politisch und rassisch Verfolgte aus Mittel- und Osteuropa bis zu den verschiedenen Migrantengruppen aus Afrika, dem Maghreb und zunehmend Asien. Während die sich aus der Koexistenz von Nationalsprache und autochthonen, heute meist prekären Regionalsprachen ergebende diversité linguistique gut erforscht ist, ist das Interesse an den Auswirkungen von Migration auf das sprachliche Gefüge in Frankreich bislang eher gering. Damit befasste sich die Sektion Die langues de l’immigration in der Diskussion: Sprachpolitik und Varietätenlinguistik (Sektionsleitung Prof. Dietmar ­Osthus, Julia Richter) des Frankoromanistentages 2014. Wie vital sind die langues de l’immigration heute, und wie laufen Prozesse des Sprachenwechsels bzw. des intergenerationellen Sprachentransfers unter den Bedingungen der französischen ­Integrationspolitik? Welche Einflüsse auf ­Va­rietäten des (gesprochenen) Französisch sind auf Migrantensprachen zurückzuführen, und wie werden solche in öffentlichen, oft laienlin­guistischen Diskussionen bewertet? Welche sprachpolitischen Dimensionen haben mi­gra­tions­politische Diskurse, welche Umsetzungen und welche fremdsprachendidaktischen Konzepte bestehen in der Französisch-Didaktik für allophone Migranten? Hier bieten sich zudem vergleichende deutsch-französische Perspektiven ebenso an wie ein Blick auf andere Regionen der Frankophonie wie etwa Québec.

Die Sprachenvielfalt einer Region ist nicht nur hör-, sondern auch sichtbar. Im wörtlichen Sinn „in den Blick“ nimmt sie das bereits letztes Mal vorgestellte Projekt Metropolenzeichen: ­Visuelle Mehrsprachigkeit in der Metropole Ruhr (Förderung: Mercator Research Center Ruhr (MERCUR); Prof. Evelyn Ziegler, Prof. Heinz Eickmans, Prof. em. Ulrich Schmitz, Prof. Haci-Halil Uslucan). Grundlage der Querschnitt­studie für die Städte Duisburg, Essen, ­Bochum und Dortmund bildet ein digi­tales, ­geokodiertes Bilddaten-Korpus mit 25.000 Bildern. Mehr­sprachigkeit, wie sie sich auf Informations-, ­Geschäfts- und Straßenschildern, aber auch in Graffiti zeigt, steht nicht nur in ­engem Zusammenhang mit Migration, Kultur- und Konsumtou­rismus, sondern auch mit Regionalisierungs­tendenzen, das heißt der Inanspruchnahme kleinräumigerer kultureller Identifikations-­Symbole wie etwa regionalen Varietäten. In einem interdisziplinären und multiperspektivischen Zugriff werden stadtsoziologische, sprachwissenschaftliche und integrationstheoretische Aspekte behandelt. Ziel des Projektes ist es, die zunehmende Plurilingualisierung der Metropole Ruhr als Profilmerkmal quantitativ und qualitativ zu bestimmen und zu untersuchen, inwieweit ­visuelle Mehrsprachigkeit Akte der Identität, ­Alterität und Multikulturalität, gesellschaftlichen Anerkennung, Zugehörigkeit und Beheimatung zu erkennen gibt.
Für die Zugehörigkeit und Beheimatung von Zuwanderern in Deutschland spielen sowohl der Erwerb des Deutschen als auch der Erhalt der Herkunftssprache eine entscheidende Rolle. Im Projekt Longitudinalstudien – Sukzessiver bilin­gualer Erwerb deutsch-türkisch (SBE) untersucht Prof. Katja F. Cantone-Altıntaş, wie der ungesteuerte sukzessive Erwerb in beiden Sprachen erfolgreich ablaufen kann. In diesem Zusammenhang spielt auch die Erforschung der Bedingungen des Spracherhalts eine wichtige Rolle sowie die institutionelle Verankerung von Mehrsprachigkeit.