Geisteswissenschaften

Kulturhauptstadt Europas

Metropole – Kultur – Kulturhauptstadt: Die „38. UNIKATE“ (Federführung: Prof. Jörg Engelbrecht) standen im Zeichen der Ruhr.2010. Im März 2010 erschienen, versammelt das Heft Beiträge zur ­Urbanisierungs- und Metropolenforschung vor allem aus verschiedenen geisteswissenschaftlichen Blickwinkeln. Mit der Interdisziplinarität der Erforschung Urbaner Systeme an der UDE aus geisteswissenschaftlicher Perspektive und dem Begriff des Urbanen befasst sich der einführende Beitrag von Prof. Jens Martin Gurr. Gurr problematisiert darin auch den Begriff der „Metropole Ruhr“. ­Sicher lässt sich diese Selbstzuschreibung des ­Metropolenstatus der Region kritisch hinterfragen. Fest steht aber, dass sich im Ruhrgebiet Prozesse zeigen, die auch global in Ballungsräumen beobachtbar sind. Die Chance, in bestimmten Bereichen eine Vorreiterrolle zu übernehmen, diskutiert der evangelische Theologe Prof. Thorsten Knauth am Beispiel interreligiösen Lernens im Beitrag „Pot(t)-pourri der Religionen“. Kulturelle Differenz und Integration, auch jenseits religiöser Fragen, sind zentrale Themen in einer Region, in der Einwanderung und Migration traditionell eine große Rolle spielen. Dr. Karin Kolb, Prof. Jens Loenhoff und Prof. H. Walter Schmitz (Kommunikationswissenschaft) zeigen, mit welchen Strategien es der Stadt Mühlheim an der Ruhr gelingt, von ihren Einwohnern als „Stadt für alle Bürger“ wahrgenommen zu werden und welche immense Bedeutung dabei symbolisch-kommunikativen Teilhabemöglichkeiten zukommt. „Pioniere für den Erwerb der deutschen Sprache“ waren in den 70er-Jahren die WissenschaftlerInnen des Bereichs Deutsch als Zweit- und Fremdsprache. In seinem Beitrag zeichnet Prof. em. Rupprecht S. Baur dessen Entwicklung von der Gründungszeit der Essener Hochschule bis heute nach. Die Geographie, vertreten durch Prof. Wilhelm Kuttler, Prof. Rudolf Juchelka und Prof. Hans-Werner Wehling, untersucht so unterschiedliche Phänomene wie den wirtschaftlichen Strukturwandel, das Problem des Klimawandels sowie den Bereich Verkehr und ­Logistik. Verkehrstechnisch, aber vor allem auch sprachlich und historisch vielfältig verbunden ist das Ruhrgebiet mit der Rhein-Maaß-Region. Seit nunmehr zehn Jahren widmet sich das „Institut für niederrheinische Kulturgeschichte und Regionalentwicklung“ (InKuR) der grenzüberschreitenden Forschung. Prof. Jörg Engelbrechts Porträt dieser einzigartigen Einrichtung bildet den Abschluss der „Beiträge zur Ruhr.2010“ in den 38. Unikaten.

Das Großereignis Ruhr.2010 hat der Region und der Universität schon im Vorfeld zweifellos zahllose Impulse gegeben. Mit dem Ende der Kulturhauptstadt aber beginnt die Erforschung ihrer Effekte und nicht zuletzt die kritische Bewertung. „Wen (alles) adressiert eigentlich eine europäische Kulturhauptstadt?“, fragt Prof. Rolf Parr (Literatur- und Medienpraxis) und untersucht „das Beispiel »Essen für das Ruhrgebiet«“. Denn Kulturhauptstädte müssen zwischen Bewerbung und Realisierung verschiedenste Zielgruppen ansprechen. Dabei bleibt häufig nicht nur die lokale Öffentlichkeit auf der Strecke, sondern es kommt zu einer zweifachen kulturellen Ausgrenzung: erstens in der Abstufung von Event-Hochkultur bis freier Kunstszene und zweitens in ethnischer Hinsicht. Das führt zu geschlossenen lokal-ethnischen Milieus im urbanen Raum und verhindert den interkulturellen Austausch, der ­eigentlich das Ziel von Kulturhauptstädten ist.

Auch die Historikerin Dr. Korinna Schönhärl widmete sich als Mitglied der Global Young Faculty den Kulturhauptstädten 2010, Ruhrgebiet und ­Istanbul. Inwiefern werden ethnische und religiöse Minderheiten als ökonomisches Potenzial in Wirtschaft und Stadtpolitik betrachtet? Wie kann das ökonomische Potenzial von Minderheiten in Wirtschaft, Stadtplanung und Stadtentwicklung genutzt werden? Der Sammelband „Ruhr Area and Istanbul: The Economy of Urban Diversity“ (hgg. mit Prof. Monika Salzbrunn, Lausanne, und Dr. Darja Reuschke, St. Andrews) eröffnet eine ­innovative und interdisziplinäre Sicht auf diese gesellschaftspolitisch drängenden Probleme. Die beteiligten WissenschaftlerInnen präsentieren dabei konsequent Querbezüge zwischen Geschichte und Gegenwart.

 

Welcome, Welkom, Hosgeldiniz, Bienvenue – Willkommen im Ruhrgebiet

Das Schild an der Straßenbahnhaltestelle ­„Zeche Zollverein“ in Essen begrüßt die Besucher auf Deutsch, Englisch, Niederländisch, Türkisch und Französisch. Viele Fahrkartenautomaten im Ruhrgebiet bieten als Sprachenauswahl Deutsch, Englisch und Türkisch an. Auch Graffiti finden sich in vielen Sprachen. Diese Zeichen sichtbarer (= visueller) Mehrsprachigkeit werden in dem ­interdisziplinären Forschungsprojekt „Metropolenzeichen. Visuelle Mehrsprachigkeit in der Metropole Ruhr“ unter Federführung von Prof. Evelyn Ziegler (beteiligte Institute UDE: Germanistik und ­Turkistik; Institut für Soziologie der RUB, Förderung: MERCUR) von Sprachwissenschaftlern, Stadtsoziologen und Integrationsforschern untersucht. Die Querschnittstudie für die Städte Duisburg, Essen, Bochum und Dortmund nimmt dabei je zwei Stadtteile entlang des „Sozialäquators A40“ in den Blick. Ziel ist es, herauszufinden, inwieweit sich die kulturelle Vielfalt der Bevölkerungsstruktur, aber auch des Kultur- und Konsumtourismus in sichtbarer Mehrsprachigkeit im Straßenbild ausdrückt. Welche Funktionen werden damit verbunden (Ausdruck von Identität und Beheimatung, Zugehörigkeit und Anerkennung)? Wie wird diese sichtbare Mehrsprachigkeit von der Bevölkerung bewertet?

Die Uneinheitlichkeit des Ruhrgebiets und seine in den letzten 200 Jahren sich wandelnde administrative Zersplitterung haben dazu geführt, dass seit den 70er Jahren keine verlässliche und erst recht nicht den gesamten Entwicklungszeitraum überspannende Sammlung von statistischem Datenmaterial existiert. Diese Lücke soll in großer Bandbreite der vom RVR geförderte Band „Ruhrgebiet 1812–2012“, an dem der Geograph Prof. Hans-Werner Wehling arbeitet, schließen. Er beschäftigt sich auch mit einer Stadt, die in der Wahrnehmung der Metropole Ruhr eher auf der Schattenseite steht: „Gelsenkirchen“ gehört zum einen zu den wenigen administrativen Einheiten des Ruhrgebiets, deren montanindustrielle Entstehung im industriellen Zeitalter auch im funktionalen Sinne zu tragfähigen Ansätzen einer Stadtbildung geführt hat (wenngleich diese hinter den urbanen Strukturen der großen Hellwegstädte zurückgeblieben ist). Zum anderen hat die Stadt in der Planungszeit der Internationalen Bauausstellung erste grundlegende Umbaumaßnahmen erfahren. Schließlich ist Gelsenkirchen heute unter dem Einfluss der letzten Phase der montanindustriellen Deindustrialisierung das sozio-ökonomische Schlusslicht unter den Großstädten des Ruhrgebiets. Insgesamt ist Gelsenkirchen gegenwärtig sozio-ökonomisch, funktional und städtebaulich ein Musterbeispiel für die Spannungen und Divergenzen im Übergang von einer industriellen zu einer nachindustriellen Stadtstruktur.

 

An Rhein und Ruhr

Der Fluss, der dem Ruhrgebiet den Namen gibt, steht im Zentrum des vom BMBF geförderten Verbundprojekts „Sichere Ruhr“ (Beteiligung unserer Fakultät durch Prof. Jo Reichertz, Kommunikationswissenschaft). Ziel: die Ruhr bzgl. ihrer Wasserqualität noch sicherer zu machen. Einerseits soll die Sicherheit der Trinkwassergewinnung und -aufbereitung aus der Ruhr verbessert werden, indem zum Beispiel Krankheitserreger rückgehalten werden. Andererseits möchten die Wissenschaftler herausfinden, ob, und wenn ja, wie die Ruhr zeit- und streckenweise als offizielles Badegewässer dienen kann. Um dieses Ziel zu erreichen, arbeiten 13 Partner aus 10 Institutionen interdisziplinär zusammen. Kommunikationswissenschaftliche Aspekte sind unter anderem: partizipative Strategien/Bürgerbeteiligung, Risikokommunikation sowie Sensibilisierung für die Ruhr als kulturelles Gut. Auch an einer Stakeholder- sowie an einer Diskursanalyse zum Thema Wasserrisikokommunikation in Deutschland wird derzeit gearbeitet. Auf Basis der Ergebnisse sollen schließlich ein Risikokommunikationskonzept und ein Handlungsleitfaden für das Flussbaden erarbeitet werden, die auch auf andere Fließgewässer in Europa übertragbar sind.

Forschung mit einem Bezug zur Region fand nicht nur innerhalb der Universität statt. Das Projekt „Leben in den Trümmern“ (InKuR) trug die wissenschaftliche Arbeit in die Schule. Ein Jahr lang befassten sich SchülerInnen von vier Gymnasien in Wesel, Kaiserswerth, Geldern und Oberhausen mit dem Wiederaufbau ihrer Stadt nach dem Zweiten Weltkrieg. Sie erarbeiteten, unterstützt von Wissenschaftlern und weiteren Projektpartnern (Archiven, Museen usw.), die Themenfelder Ernährung, Kindheit und Jugend, Entscheidungsträger sowie Wohnen und Alltag in den sehr unterschiedlich von den Kriegshandlungen betroffenen Städten und konzipierten eine vergleichende Ausstellung. Kern des 2011 beantragten und von der Robert Bosch Stiftung geförderten Denkwerk-Projektes waren das Einüben historischer Forschungsmethoden sowie Zeitzeugenbefragungen und das Aufbereiten der Arbeitsergebnisse für die Ausstellung, die am 1. Juli 2012 in der Universitätsbibliothek am Duisburger Campus eröffnet und in allen Schulorten gezeigt wurde.